2016 eskalierten wütende Proteste gegen die frankophone Dominanz in Kamerun und mündeten bald darauf in bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen anglophonen separatistischen Gruppierungen und der Zentralregierung. Der Konflikt zwischen dem französisch geprägten Mehrheitsstaat und den kleineren englisch geprägten Landesteilen schwelt schon seit Jahrzehnten.
Anglophone Krise: Spätfolge des Kolonialismus
Von 1884 bis 1916 war Kamerun deutsche Kolonie. Nach der Niederlage des Deutschen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg übergab der Völkerbund das Gebiet an die Siegermächte Frankreich und Großbritannien. Das frankophone Kamerun wurde 1960 unabhängig. Das britische Kamerun musste sich 1961 in einem Referendum zwischen der Angliederung an Kamerun oder Nigeria entscheiden. Die Option der Unabhängigkeit gab es bei der Volksbefragung nicht. Das nördliche britische Kamerun wählte Nigeria, das südliche den Anschluss an Kamerun. Von da an bestand Kamerun aus dem französischsprachigen Ostkamerun und dem englischsprachigen Westkamerun.
Wir dokumentieren die wichtigsten Etappen des Konflikts in den vergangenen fünf Jahren:
Oktober 2016: In den anglophonen Gebieten beginnen wilde Streiks: Richter, Anwälte und Lehrer fordern die Einhaltung der in der Verfassung verbrieften Gleichberechtigung der englischen Sprache in Verwaltung, Justiz, Bildungs- und Gesundheitswesen sowie das Ende der systematischen Benachteiligung der anglophonen Regionen innerhalb des offiziell zweisprachigen Landes. Die Streikenden prangern den niedrigeren Entwicklungsstand der beiden anglophonen Regionen im Vergleich zu den frankophonen Regionen Kameruns an. Sie kritisieren auch, dass die Ausbeutung der Erdölvorkommen vor der Küste der Südwestregion hauptsächlich der Zentralregierung und dem frankophonen Teil zugute kommen. Die Bevölkerung der englischsprachigen Provinzen sei in Parlament, Regierung, Verwaltung und Universitäten unterrepräsentiert, kritisieren die streikenden Lehrer und Richter.
Mit Beginn des Schuljahres 2016 waren tausende französischsprachige Richter und Lehrkräfte in die anglophonen Regionen entsandt worden. Die Regierung verfolgte damit das Ziel, das britisch geprägte Rechts- und Bildungssystem nach und nach durch das frankophone zu ersetzen. In den anglophonen Gebieten heißt es, frankophone Richter und Lehrkräfte, die oft kein Englisch beherrschten, würden die englische Sprache verdrängen.
November 2016: Der Konflikt eskaliert, weil die Regierung zunächst schweigt und dann die Streikbewegung massiv unterdrückt. Die Forderungen der anglophonen Gruppen werden lauter. Sie reichen von der Rückkehr Kameruns zum Föderalismus bis hin zur Unabhängigkeit der beiden anglophonen Regionen. Teile der separatistischen Bewegung bezeichnen die anglophonen Regionen als „Ambazonia“.
Es entstehen unterschiedliche anglophone Separatistengruppen, die bis zu 4000 Mitglieder zählen und und zum Teil von der kamerunischen Diaspora im Ausland unterstützt werden. Die wichtigsten Gruppierungen sind die „Ambazonia Defence Forces“, der „Ambazonia Self-Defence Council“ und das „African People’s Liberation Movement“ mit ihrem bewaffneten Flügel, den Southern Cameroons Defence Forces. Es kommt zu große Rivalitäten zwischen unterschiedlichen Ethnien und Anführern. Eine gemeinsame militärische und politische Führung gibt es nicht.
Dezember 2016: Am 8. Dezember 2016 werden in der drittgrößten kamerunischen Stadt Bamenda, in der anglophonen Nordwest-Region, mehrere Personen durch Sicherheitskräfte mit scharfer Munition getötet. Dutzende werden verwundet. Der Armee gelingt es nicht, die Kontrolle über die Lage zu erlangen. Der Konflikt eskaliert.
Januar 2017: Die Regierung startet eine Offensive in den Separatistengebieten: Von Januar bis April 2017 lässt sie in den anglophonen Regionen den Zugang zum Internet sperren und verhaftet Angehörige anglophoner Organisationen. Neue Demonstrationen der anglophonen Lehrer- und Juristenverbände werden von Armee und Polizei brutal niedergeschlagen. Infolgedessen rufen separatistische Gruppen wie das „Cameroon Anglophone Civil Society Consortium“ jeden Montag zu Generalstreiks auf, die das öffentliche Leben lahm legen.
Oktober 2017: Separatistenführer Ayuk Tabe ruft am 1. Oktober (dem offiziellen Tag der Staatsgründung Kameruns) die Unabhängigkeit der Republik Ambazonien aus. Mehrere Gebiete gelangen unter Kontrolle bewaffneter Separatistengruppen. Präsident Paul Biya versucht weiterhin, den Konflikt kleinzureden und kleinzuhalten.
Internationale Organisationen werden zunehmend auf den Konflikt aufmerksam: Human Rights Watch spricht von etwa 4000 Toten und 60.000 Menschen, die wegen der Krise nach Nigeria geflohen seien. Rund 850.000 Kinder könnten in den betroffenen Regionen nicht zur Schule gehen. Von den rund 5 Mio. Menschen, die in den anglophonen Regionen leben, seien ca. 2,3 Millionen auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Oktober 2018: Präsident Paul Biya, seit 1982 im Amt, gewinnt die umstrittene Präsidentschaftswahl mit 71,28 Prozent. Die politischen und ethnischen Spannungen zwischen dem Lager des Präsidenten und der Opposition verschärfen sich.
Februar 2019: Oppositionsführer Maurice Kamto von der Partei Bewegung für die Wiedergeburt Kameruns (Mouvement pour la renaissance du Cameroun – MRC), der in der Vergangenheit immer wieder scharf gegen Benachteiligungen protestiert hatte, wird wegen Anstiftung zur Gewalt zu acht Monaten Haft verurteilt.
September 2019: Präsident Paul Biya kündigt am 10. September in den Staatsmedien einen „grand dialogue national“, einen nationalen Dialog zur Lösung des Konflikts an. Die Gespräche finden zwischen dem 30. September und dem 4. Oktober statt. Die Regierungspartei RDPC, einige religiöse Gruppen sowie Teile der Zivilgesellschaft unterstützten Biyas Vorstoß. Auch UN-Generalsekretär António Guterres begrüßt die Initiative.
Die meisten Oppositionsparteien stellen sich jedoch gegen den Dialog, weil wichtige Separatistenführer immer noch in Haft seien. Außerdem würden die Rückkehr zum Föderalismus sowie die Unabhängigkeit der anglophonen Gebiete von Anfang an nicht zur Debatte stehen.
Mehrere Dialogangebote von internationaler Seite, wie zum Beispiel der Vereinten Nationen, der Afrikanischen Union und der katholischen Kirche, werden von Präsident Biya zurückgewiesen.
Dezember 2019: Biya unterzeichnet auf Empfehlungen des „großen nationalen Dialogs“ mehrere Gesetze zur Förderung der Zweisprachigkeit und der Dezentralisierung. Oppositionelle sprechen von „Fassadenreformen“, die lediglich dem Machterhalt Biyas dienen.
Februar 2020: Aus Protest boykottiert Maurice Kamtos Partei MRC die Parlaments- und Kommunalwahlen, die die Regierungspartei RDPC bei historisch geringer Wahlbeteiligung mit großer Mehrheit gewinnt.
März 2020: In der nördlichsten Region des Landes, im Tschadsee-Becken, nehmen die Angriffe der radikal-islamistischen Terrorgruppe Boko Haram zu, die von Nigeria und dem Tschad aus operieren. Dieser Konflikt destabilisiert Kamerun zusätzlich.
März 2020: Angesichts der Corona-Pandemie erklärt die separatistische militante Gruppierung „Southern Cameroon Defence Forces“ eine Waffenruhe ab dem 29. März 2020 und folgt damit einem Aufruf von UN-Generalsekretär António Guterres. Die größte militante Separatistengruppierung Ambazonian Defence Forces (ADF) schließt sich der Waffenruhe nicht an. Die Angriffe halten an.
September 2021: Tödliche Angriffe von unterschiedlichen separatistischen Milizen auf Militärposten und Fahrzeuge der kamerunischen Armee sind weiterhin an der Tagesordnung. Die kamerunischen Sicherheitskräfte bereiten sich auf starke Konfrontationen am 1. Oktober vor, an dem offiziell die Staatsgründung Kameruns gefeiert wird. Am selben Tag feiern die Separatisten die Ausrufung der unabhängigen „Republik Ambazonien“ im Jahr 2017.
Source: https://www.dw.com/de/separatismus-in-kamerun-f%C3%BCnf-jahre-blutiger-konflikt/a-59351703